„70 Prozent der Franzosen sind zornig“

Mittwoch, 29. Mai 2019 | 

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EUROPA HAT DIE WAHL: Axel Veiel, früherer Frankreich-Korrespondent der BZ, zeigt die Lage im Land kurz vor der Abstimmung auf.

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FREIBURG. Es ist noch keine zehn Jahre her, 2012, da sprachen die Franzosen liebevoll von „Merkozy“ – eine Fusion der Namen von Kanzlerin Angela Merkel und dem früheren Präsidenten Nicolas Sarkozy. „Damals herrschte Aufbruchstimmung, man dachte, es könnte sich sogar einmal eine Art gemeinsames Land entwickeln als Motor Europas „, erzählt Axel Veiel im BZ-Korrespondenten-Talk mit Michael Wehner von der Bundeszentrale für politische Bildung und BZ-Chefredakteur Thomas Fricker zur Europawahl im Freiburger Humboldtsaal. Und heute? Veiel findet, dass der deutsch-französische Motor schlecht läuft. „Ich würde mir wünschen, dass die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron für Europa mehr Resonanz in Deutschland finden“, sagt Veiel, der Anfang 2019 nach Deutschland zurückkehrte und jetzt als freier Journalist arbeitet. Im September 2017 hatte der französische Staatspräsident eine Rede an der Sorbonne gehalten. Dort entwarf er seine Visionen für ein souveränes, geeintes und demokratisches Europa. Als einer der Schlüssel betrachtete er eine gemeinsame Sicherheitspolitik mit einer gemeinsamen Eingreiftruppe und einem gemeinsamen Verteidigungshaushalt. Auch eine Vereinheitlichung der Sozial- und Steuermodelle schlug er vor. „Ich finde es Schade, dass Macron Vorschläge macht und Merkel erst einmal sagt: Ja, aber…“, sagt Veiel. Fricker will ihm da nicht ganz zustimmen. Man höre zwar diesen Vorwurf immer wieder. Es sei aber Merkel gewesen, die etwa den Vorschlag gemacht habe, einen gemeinsamen europäischen Sicherheitsrat einzurichten, um außenpolitische Entscheidungen in der EU schneller zu machen. „Das wird oft falsch dargestellt.“ Auf die Frage, ob Macron tatsächlich so für die EU brenne, wie es in der Öffentlichkeit erscheine, antwortet Veiel mit einem klaren „Ja.“ So wie er ihn bei persönlichen Begegnungen erlebt habe, sei Macron ein glühender Europäer.

Viele Franzosen allerdings wollen dem Präsidenten auf diesem Weg nicht folgen. Seine Bewegung La République en Marche liefert sich laut Umfragen zur Europa-Wahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem rechtspopulistischen Rassemblement national von Marine Le Pen. Beide können etwa 24 Prozent erwarten. Auch andere europakritische Parteien aus dem rechten und linken Lager treten zur Europa-Wahl an. „Die Zahl der Menschen, die in Frankreich von der Globalisierung profitiert, die gut ausgebildet ist, mehrere Sprachen spricht oder schon im Ausland gelebt hat, dürfte in etwa den Zustimmungsraten zu en Marche entsprechen“, meint Veiel. „Seine Partei besteht nicht zuletzt aus solchen Leuten.“

Ein Großteil der Franzosen fühle sich dagegen von Politikern wie Macron abgehängt. „Laut einer Umfrage geben rund 70 Prozent der Franzosen an, sie seien zornig“, erzählt Veiel. Der langjährige Frankreich-Korrespondent zeigt sich bei der Podiumsdiskussion besorgt über die Entwicklung in Frankreich. „Die Gesellschaft bricht auseinander, der gesellschaftliche Kitt schwindet“, meint er mit Blick auf die Proteste der Gelbwesten, die sich vor allem gegen die Politik Macrons richten. Auch die große Debatte, die Macron angestoßen hatte, um den Unzufriedenen eine Stimme zu geben, konnte die Proteste nicht völlig zum Erliegen bringen. „Der Protest schwelt weiter“, sagt Veiel. Manche der Gelbwesten haben sich radikalisiert. Im März zerstörten Demonstranten Geschäfte auf dem Prachtboulevard Champs Elysées in Paris und zündeten sie an. „Selbst die Gewerkschaften wurden abgedrängt und stehen bei Gelbwesten im Verdacht, mit den Mächtigen im Bunde zu sein“, berichtet Veiel. Früher dagegen führten sie Demonstrationen gegen die Regierung an.

Die Gründe für die Unzufriedenheit in Frankreich sind vielschichtig. Veiel berichtet, dass gerade viele Menschen auf dem Land sich benachteiligt fühlten. So ist dort die Infrastruktur oft dürftig: Abends fahren keine Busse mehr, es gibt vielerorts keine Kinos oder Theater. Die Gelbwesten-Proteste begannen dann auch, als die Regierung Benzin höher besteuern wollte. Das empfanden viele auf dem Land als Zumutung. Sie brauchen ein Auto, um etwa zur Arbeit zu kommen.

Mit Prognosen, wie es weitergehen könnte, tut sich Axel Veiel schwer: „Ich weiß nicht, wie der gordische Knoten durchhauen werden kann.“ Während seiner Korrespondenten-Tätigkeit hat er sich aber einen Reim darauf gemacht, warum es vielen Franzosen schwer fällt, aufeinander zuzugehen. „In Frankreich ist die Kompromisskultur weniger ausgeprägt als in Deutschland.“ Den Grund dafür macht er im politischen System fest. Durch das Wahlsystem erhält die Regierungspartei oft eine komfortable Mehrheit. Anders als in Deutschland muss sie dann nicht nach einem Koalitionspartner suchen. „Die starke Rolle des Präsidenten trägt zudem dazu bei, dass die Proteste oft auf eine Machtprobe zwischen Präsident und Volk hinauslaufen.“

Von Annemarie Rösch

Sa, 25. Mai 2019

 

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